Dieser Artikel wurde zuerst im Neues Deutschland am Mittwoch, 27. Juli 2016 veröffentlicht. Der Autor des Artikels ist Hendrik Lasch.

Der Saalekanal ist wirtschaftlich und ökologisch nicht zu rechtfertigen – und dennoch nicht tot zu kriegen

 

Die Kosten wären weit höher als der Nutzen, die Auswirkungen auf die Natur enorm: Der geplante Kanal an der unteren Saale ist Umweltschützern ein Graus. Die Politik aber hält eisern an dem Vorhaben fest.

Kurz hinter der Eisenbahnbrücke von Calbe herrscht auf der Saale für einen Moment so etwas wie reger Verkehr. Zugestanden: Es sind keine Binnenschiffe, die da gen Elbe ziehen. Sie haben auch weder Kies noch Zement geladen. Vielmehr handelt es sich um zwei elegante Ruderboote älterer Bauart, in denen je vier Wasserwanderer den Samstag genießen. Aber immerhin: Es ist mal etwas los auf dem Fluss. Dann verschwinden die Boote hinter einer Biegung. Auf sie warten noch etliche ausladende Bögen und Mäander; erst dann haben die Sportsfreunde die Elbe erreicht.
Andreas Liste steht am Ufer an der Stelle, an der von dem gewundenen Fluss eine Art Wasserautobahn abzweigen soll. Hinter einem frisch gemähten Deich zeugen Weiden und ein von Brennnesseln umsäumter Tümpel von einem alten Flussarm; daneben wächst Mais, so weit das Auge reicht. Hier, sagt Liste, soll der Kanal beginnen. Knapp zehn Kilometer lang, drei Meter tief und mehr oder weniger schnurgerade. Bei Barby soll er in die Elbe münden. Ein Segen für die darbende Schifffahrt auf der Saale, sagen die einen. Ein nichtsnutziges Monstrum, das der Natur schadet und wertvolle Flussauen unwiederbringlich zerstört, warnen andere. »Wenn der Kanal gebaut würde«, sagt

Andreas Liste, »wäre die Saale nicht mehr der Fluss, den wir kennen.« Liste kennt die Saale aus dem Effeff, so wie viele Flüsse in Südostdeutschland. Der stämmige Mann ist Vorsitzender des »Arbeitskreises Hallesche Auenwälder« (AHA), eines Vereins, dessen Name etwas in die Irre führt: Er kümmert sich nicht nur um Schutz und Erhalt von gewässernahen Landschaften in Halle. Fast im Wochentakt begeben sich Mitglieder und Interessenten auf Exkursionen an Elbe und Mulde, Weiße oder Schwarze Elster. Sie freuen sich über Reste intakter Auenwälder; sie entwickeln Ideen, wie diese zu erhalten sind; und sie engagieren sich gegen Vorhaben, die aus ihrer Sicht unzulässig in die Natur eingreifen. Eines ihrer prägnantesten Feindbilder ist der Saalekanal. »Ein Irrwitz«, sagt Liste: »Ein Bauwerk, das niemand braucht.«

Für die Behauptung kann sich Liste auf offizielle Zahlen von gänzlich unverdächtiger Seite stützen. Sie stehen im Entwurf des neuen Bundesverkehrswegeplans (BVWP) 2030 ab Seite 177. Hier hat das Bundesministerium für Verkehr Vorhaben aufgelistet, mit denen binnen 15 Jahren das Wasserstraßennetz in Deutschland ertüchtigt werden soll. Unter der Nummer W 32 findet sich der Saalekanal. Eine schmale Spalte in der Tabelle ist mit dem Kürzel NKV überschrieben; es steht für »Nutzen-Kosten-Verhältnis«. Projekte wie die Vertiefung der Fahrrinne an der Außenweser kommen auf ein NKV von 31,6: Für jeden investierten Euro sollen 31,60 Euro zurückfließen. Im Fall des Saalekanals liegt der Wert bei gerade mal 0,2; niedriger ist er bei keinem anderen aufgeführten Vorhaben. Die Zahl bedeutet, dass den Baukosten – sie werden in dem Dokument auf 133,8 Millionen Euro beziffert – ein Nutzen gegenübersteht, der gerade mal ein Fünftel dieser Summe beträgt. Kritiker ätzen und sprechen von »hocheffektiver Geldvernichtung«.

Es gibt auch Stimmen wie die von Manfred Sprinzek. Der fast 72-Jährige steht dem »Verein zur Hebung der Saaleschifffahrt« vor, einem von regionalen Firmen unterstützten Lobbyverein, der den Fluss wirtschaftlich beleben will und im Kanalbau alles andere als eine Verschwendung von Steuergeld sieht. Er sei vielmehr notwendig als »Lückenschluss« in Richtung Elbe und »vollende« den Ausbau der Saale, der in den 1930er Jahren vorangetrieben, aber wegen des begonnenen Zweiten Weltkrieges am Unterlauf nicht vollendet wurde. Eine geplante Schleuse bei Klein Rosenburg wurde damals nicht mehr errichtet. Nach 1989 holte man die Pläne zunächst wieder hervor, legte sie wegen gravierender Auswirkungen auf die Umwelt aber 2001 endgültig zu den Akten. Statt dessen entstand die Idee, den Kanal als »Abkürzung« in die Landschaft zu klotzen. Mit diesem, sagt Sprinzek, werde eine »wirtschaftliche Schifffahrt« erst möglich. Die Argumentation stößt vor allem im CDU-geführten Verkehrsministerium von Sachsen-Anhalt auf offene Ohren.

Nachdem das Essener Planungsbüro Planco im Jahr 2012 prognostiziert hatte, auf dem Kanal würden nur magere 560 000 Tonnen Fracht pro Jahr befördert, gab Ressortchef Thomas Webel ein Gegengutachten in Auftrag. Ein Dresdner Büro errechnete ein Frachtaufkommen von 1,4 Millionen Tonnen. Es ist eine Zahl, mit der sich der Bau wesentlich besser rechtfertigen ließe – die allerdings selbst Webels Ressortkollegen in Berlin nicht übernehmen. Im Entwurf des BVWP wird der Saalekanal »außerhalb des Kernnetzes« eingeordnet. Kriterium dafür: eine erwartete Frachtmenge von weniger als 600 000 Tonnen im Jahr.

Der Fakt, dass auf dem Kanal kaum Güter transportiert werden und die hohen Baukosten nicht annähernd wieder eingespielt werden können, ist indes nicht das einzige Argument, das gegen das Bauwerk spricht. Naturschützer wie Andreas Liste nennen weitere. Er verweist auf den Verlust an wertvollem Ackerland – der Flächenbedarf für den Kanal wird auf knapp 60 Hektar beziffert. Er erwartet zudem große hydrologische Probleme. Die Region zwischen Calbe und Barby liegt schon jetzt im Regenschatten des Harzes. Wegen des Klimawandels wird erwartet, dass sich die jährliche Regenmenge um ein Drittel auf 300 Liter je Quadratmeter verringert. Auch derzeit herrscht Trockenheit in der Region; das Laub der Bäume und Sträucher nimmt deshalb teilweise schon die Herbstfärbung an. Dass die Saale in einer solchen Situation auch noch den Kanal zusätzlich mit Wasser versorgen solle, sei »ein Problem«, sagt Liste. Eingegriffen wird zudem in Schutzgebiete. Ein Expertengremium hat im Rahmen eines Umweltberichtes derlei Auswirkungen für alle Projekte des BVWP 2030 berechnet. Für den Saalekanal beziffern sie die »Nutzensumme« auf minus 7,7 Millionen Euro. Es ist der mit Abstand schlechteste Wert aller aufgeführten 28 Wasserbauprojekte.

Und doch müssen die Gegner zähneknirschend zur Kenntnis nehmen: Der Saalekanal ist nicht tot zu kriegen. Er wird im Entwurf des neuen BVWP zwar nicht mehr in der Kategorie »vordringlicher Bedarf« geführt wie in dem derzeit noch geltenden Planungsdokument; vielmehr rutscht er in die Kategorie »weiterer Bedarf«; er steigt also gewissermaßen von der ersten in die zweite Liga ab. Angesichts der im Bundesetat zur Verfügung stehenden Mittel ist jedem nüchternen Betrachter klar, dass für einen Baubeginn am Kanal jedenfalls bis zum Jahr 2030 kein Spaten in die Erde gerammt wird. Aber wenn es sich die Abgeordneten des Bundestages, die das letzte Wort zum Bundesverkehrswegeplan haben, nicht in der paramentarischen Beratung noch anders überlegen, bleibt das Vorhaben im Bund auf der Tagesordnung. Und auch das Land gibt es nicht endgültig preis. Zwar sind die Grünen, die seit April mit CDU und SPD in Magdeburg regieren, gegen den Kanal; eine Äußerung von CDU-Landeschef Thomas Webel, wonach die Ökopartei mit dem Koalitionsvertrag auch dem Kanal zugestimmt habe, sorgte vor der offiziellen Bildung des Bündnisses für viel Zoff. Wolfgang Aldag, Verkehrsexperte der Fraktion, sagt ein Vierteljahr später klipp und klar: »Wir stehen dem Kanal seit jeher skeptisch gegenüber.« Daran habe sich mit Eintritt in die Regierung »nichts geändert«. Der Bau sei »aus ökonomischen und ökologischen Gründen abzulehnen«.

Im Koalitionsvertrag aber finden sich statt einer klaren Absage ein paar verklausulierte Sätze, wonach alle Koalitionspartner »unbeschadet unterschiedlicher Haltungen« zu Projekten des BVWP die »Ergebnisse der Bewertungsverfahren anerkennen«und »keine abweichenden oder weiterführenden Initiativen ergreifen«. Im Verkehrsministerium liest man das so, dass »alle Koalitionspartner der Einordnung des Vorhabens zustimmen «, wie Sprecher Peter Mennicke formuliert. Im Klartext dürfte das heißen: Bis Ende der Legislaturperiode 2021 passiert beim Kanal nichts, danach werden die Karten je nach politischer Konstellation neu gemischt.Umweltschützer sehen im Festhalten am Kanal vor allem eine Gefahr: Der Druck, später auch die Saale und die Elbe auszubauen, bleibt erhalten. »Was nützen zehn Kilometer Kanal, wenn es davor und danach Flachwasserabschnitte gibt?!«, sagt Andreas Liste. Zwar enthält der Koalitionsvertrag auch eine sehr deutliche Absage an den Ausbau der Elbe. Auch in diesem Fall aber gilt: Der Vertrag gilt bis 2021. Liste jedenfalls kann die Argumente der Befürworter schon jetzt herbeten. Bisher wurde unter Verweis auf den Ausbau des Saalehafens in Halle, in den 30 Millionen Euro investiert wurden, auf den Bau des Saalekanals gedrängt. Sei der errichtet, werde mit Hinweis auf das investierte Geld der nächste Schritt gefordert werden: »Das ist ein Vehikel, um sich auch an der Elbe vergreifen zu können.«

Geht es nach Liste und seinen Mitstreitern, sollten Bund und Land statt dessen einen Schlussstrich ziehen. Sie sollten die Pläne »endgültig stoppen, statt weiter Geld und Personal dafür einzusetzen«, sagt er, schwingt sich aufs Rad und fährt auf einem Feldweg zwischen Mirabellenbüschen den Ruderern hinterher. Vielleicht, hofft er, geht es ja genügend Abgeordneten im Bundestag wie ihm: Er hat vom Saalekanal den Kanal voll.